Norderstedt (em) Im Jahr 1949 ist ein junger Medizinstudent in Wien nicht länger bereit, dem Schicksal der vernachlässigten Kriegswaisen auf den Straßen der Stadt tatenlos zuzusehen. Sein Name: Hermann Gmeiner. Seine Idee: Kinder, die ihre Eltern verloren haben, sollen dennoch in Schutz und Geborgenheit in einer familiären Umgebung aufwachsen können. Und ein passender Name für seine Initiative fällt ihm auch schnell ein: SOS-Kinderdorf.

Kinderheim wie Familie zu gestalten ist zu damaliger Zeit ein deutlicher Gegenentwurf zu den gängigen Heimen und Erziehungsanstalten, der aber in der Öffentlichkeit schnell große Aufmerksamkeit und Unterstützung findet. Bereits am 8. Februar 1955 kann Gmeiner in München den deutschen SOS-Kinderdorf e.V. gründen, jetzt feiert der Verein seinen 60. Geburtstag und blickt auf eine stolze Erfolgsgeschichte zurück. SOS-Kinderdorf wird den meisten Menschen heute ein Begriff sein, aber nicht alle dürften wissen, dass es auch in Deutschland 16 SOS-Kinderdörfer gibt.

Und die Hilfe richtet sich auch schon lange nicht mehr ausschließlich an Waisenkinder, sondern an sogenannte Sozialwaisen. Also an Kinder, deren Wohlergehen in ihrem familiären Umfeld nicht mehr gewährleistet ist, und die ein neues Zuhause und eine neue Lebenschance brauchen. Darüber hinaus hat SOS-Kinderdorf heute viele weitere moderne Hilfeformen im Angebot, die sich an Jugendliche ebenso wenden wie an junge Familien, und sie frühzeitig bei ihren Problemen unterstützen und ihre Kompetenzen stärken. Auch in Schleswig-Holstein gibt es zwei SOS-Kinderdörfer. Das erste, das SOS-Kinderdorf Harksheide, wurde 1963 im heutigen Norderstedt eröffnet, das SOS-Kinderdorf Schleswig-Holstein in Lütjenburg kam 1970 hinzu.

Die Entstehungsgeschichte dieser beiden nördlichsten deutschen Kinderdörfer spiegelt dabei exemplarisch die Grundlage des langjährigen erfolgreichen Arbeitens wider: Ohne Unterstützung aus der Gesellschaft geht nichts! In Lütjenburg war es der Lions Club Plön, der den Anstoß gab, in Harksheide geht die Gründung auf die Initiative eines Freundeskreises aus Hamburg zurück. Zimperlich war man in diesen Gründungsjahren hier wie dort nicht. In Lütjenburg reichte das Geld anfangs nicht für die Anschaffung von Möbeln, also wurden die vom damaligen Dorfmeister selbst gebaut. Die ersten vier Familien trafen sich zum Essen und Spielen immer gemeinsam auf derselben Terrasse, weil es da schon Tische und Stühle gab. Ähnlich war es in Harksheide, das heute zwar im Speckgürtel Hamburgs gelegen ist, aber 1963 noch sehr abgelegen war. Kilometerweit gab es keine weitere Bebauung und Gummistiefel waren in dieser Zeit das wichtigste Fortbewegungsmittel.

„Das Spektakuläre“, so Manfred Thurau aus dem SOS-Kinderdorf Harksheide, „ist, dass es in einem SOS-Kinderdorf vollkommen unspektakulär zugeht. Klar, wir sind eine Erziehungseinrichtung, aber was Sie vor allem beobachten können, ist Familienleben.“ Er vergisst ehrlicherweise nicht hinzuzufügen: „Mit allen Höhen und Tiefen.“ So leben in den beiden SOS-Kinderdörfern Schleswig-Holsteins zurzeit über 100 Kinder und Jugendliche in 17 Familien und Wohngruppen. Sie gehen wie ihre Freunde auch an die normalen örtlichen Schulen, treiben Sport in den Sportverein und sind wie andere in ihrem Alter der Meinung, dass sie zu wenig Taschengeld bekommen.

So wie die anderen gut 1.000 Kinder, die seit den Gründungen hier groß geworden sind und von denen die meisten den Weg in ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben gefunden haben. Lütjenburg ist 44 Jahre alt, Harksheide 52 Jahre, der Trägerverein wird in diesen Tagen 60, aber groß feiern wird man das in den Dörfern nicht. Man freut sich über das Jubiläum und über die Anerkennung, die man mit den vielen Glückwünschen erfährt, aber das Leben geht auch einfach weiter. „Groß gefeiert“, so Tanja Nothmann aus Lütjenburg, „werden bei uns die Kindergeburtstage!“

Fotos: SOS-Kinderdorf e.V.