Neumünster (em) Lesen und Schreiben kann jeder so denken nicht wenige. Doch der Weltalphabetisierungstag der UNESCO am 8. September erinnert auch in diesem Jahr daran, dass es immer nicht selbstverständlich ist, flüssig lesen und richtig schreiben zu können, sogar in Deutschland.

Denn Analphabetismus ist nicht nur eine Problematik der Dritten Welt. Auch bei uns gibt es zahlreiche Erwachsene, die nicht oder nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben können. Die Betroffenen bewältigen den Alltag häufig noch erstaunlich gut, doch spätestens in der Arbeitswelt wird ihre Schwäche offenbar. Von Fortbildung und höher qualifizierten Arbeiten sind sie in der Regel völlig ausgeschlossen. Die Wurzeln des Übels liegen häufig in Kindheit und Jugend.

Der Wandel der Gesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft führt zu höheren Anforderungen in der Schriftsprachkompetenz der Bevölkerung. Doch trotz Schulpflicht leben nach seriösen Schätzungen in Deutschland über vier Millionen Analphabeten. Sie können gar nicht oder nicht richtig lesen und schreiben. Die Ursachen hierfür sind vielfältig.

In Deutschland haben wir es überwiegend mit sekundären Analphabeten zutun. Diese wurden zwar in der Schule im Lesen und Schreiben unterrichtet, sie haben es dennoch nie richtig gelernt und ihre geringen Fähigkeiten gingen mit der Zeit wieder fast vollständig verloren. Denn Lesen und Schreiben, man mag es kaum glauben, kann man mangels Übung wieder verlernen. Experten sprechen dann vom funktionalen Analphabetismus, da die individuellen Kenntnisse einer Person deutlich niedriger sind als die in einer Gesellschaft erforderlichen. Funktionale Analphabeten in Deutschland können Buchstaben erkennen und auch ihren Namen oder ein paar Worte schreiben. Aber der Sinn eines längeren Text erschließt sich ihnen nicht.

Niemand kommt in Deutschland als Analphabet auf die Welt. Vielmehr wird man erst in einem länger andauernden Prozess Analphabet. Auch heute gibt es Menschen, Erwachsene, Jugendliche, gar Kinder, die sich, ohne es zu wissen, auf dem Weg zum funktionalen Analphabeten befinden. Sie sammeln gerade jetzt, gerade in diesem Moment, im Beruf oder in der Schule, vielleicht aufgrund einer unentdeckten Lese-/Rechtschreibschwäche, mit dem Lesen und Schreiben frustrierende Erfahrungen. Sie entwickeln eine Vermeidungshaltung, gehen Situationen, in denen sie lesen und schreiben müssen, aus dem Weg. So verlieren sie mit der Zeit die Übung und in Folge auch die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben. Die Folgen sind oft dramatisch, denn ob Zeitung, Speisekarte, Stadtplan, Internet oder Formular, eines steht fest: Wer nicht flüssig lesen und einigermaßen richtig schreiben kann, hat in unserer Gesellschaft schlechte Karten.

Doch Analphabetismus in Deutschland ist zum Glück keine Sackgasse, denn den betroffenen Erwachsenen kann geholfen werden. Nahezu flächendeckend gibt es Kurse, in denen Erwachsene Lesen und Schreiben büffeln können (Adressen unter www.alphabetisierung.de oder über das Alfa-Telefon 0251 - 53 33 44). Alle, ob Freunde, Partner, Kinder, Eltern oder Vorgesetzte, stehen in der Verantwortung, dass diese Kurse genutzt werden, denn der Anstoß für Betroffene, Hilfe zu suchen, kommt nun einmal oft erst von außen.

Bei Kindern und Jugendlichen gilt es vorzubeugen, damit sie erst gar nicht in die Falle des Analphabetismus gehen. Das ist heute leichter gesagt als getan. Im Vergleich zum Buch sind andere Medien wie Fernsehen oder Computerspiele für Kinder leicht zugänglich und erfordern weniger Konzentration und Mühe. Eltern müssen sich daher zunächst ihrer Vorbildfunktion bewusst werden. Wenn sie selbst niemals ein Buch oder zumindest eine Zeitschrift in die Hand nehmen, warum sollten es dann ihre Kinder tun? Selbst wenn Eltern regelmäßig lesen, tun sie es dann auch sichtbar? Oder lesen sie vielleicht nur spät abends, dann, wenn endlich Ruhe eingekehrt ist und die Kleinen im Bett liegen? Bücher sollten nicht nur ihren festen Platz im Leben der Eltern, sondern auch in deren Wohnung haben. Damit ist nicht gemeint, dass Bücher, wie in der amerikanischen Serie „Eine schrecklich nette Familie“, als Unterlage für das TV-Gerät dienen. Zudem ist die Zeit, die Kinder einzelnen Medien widmen können, begrenzt. Wer stundenlang vor dem Fernsehgerät, der Playstation oder dem Computer sitzen darf, hat keine Zeit und wahrscheinlich auch keine Lust mehr, in einem Buch zu lesen. Eltern müssen daher das Medienverhalten ihres Kindes nicht nur auf die konsumierten Inhalte hin überwachen, sondern auch die auf die einzelnen Medien verwendete Zeit konsequent reglementieren.

Reglement ist jedoch nur die eine, ein gutes Angebot die zweite Seite der Medaille und genau hier wird es für Eltern kompliziert, denn letztlich entscheidet das Kind, egal wie alt, was ein gutes Angebot ist und was nicht. Interessiert sich ein vierjähriger Junge für Polizeiautos, dann wird ihn ein Bilderbuch über das Leben auf einem Bauernhof, egal wie pädagogisch wertvoll, vermutlich nicht dazu verlocken, sich nach erstmaligem Vorlesen durch einen Erwachsenen noch einmal und selbstständig mit besagtem Bilderbuch zu beschäftigen. Eltern müssen also gezielt das Interesse ihres Kindes bedienen. Um beim Beispiel zu bleiben, der vierjährige Junge bekommt ein Bilderbuch zum Thema Polizei. Findet er das gut, bekommt er ein weiteres Buch zum gleichen Thema. Wer bereits Vorschulkinder bewusst und mit Engagement so an Schrift und Lesen heranführt, der sorgt dafür, dass sie später Lesen als Spaß und nicht als Frust empfinden. So geförderte Kinder werden sicherlich nie unter Analphabetismus zu leiden haben.

Wenn Kinder und Jugendliche bereits ungewöhnliche Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, muss sofort gehandelt werden. Eltern sollten in diesem Fall nicht zögern und sich umgehend ausführlich beraten lassen. Diese Beratung sollte unter anderem einen wissenschaftlich fundierten Test der Lese-/Rechtschreibleistung umfassen, dessen Ergebnisse als Grundlage für eine gezielte Förderung unerlässlich sind.

Kann ein Erwachsener in Deutschland nicht richtig Lesen und Schreiben oder hat ein Schüler Probleme damit, lesen und schreiben zu lernen, dann dürfen wir uns damit nicht einfach abfinden. Lesen und Schreiben sind zweifellos die mit großem Abstand wichtigsten Kulturtechniken des Menschen. Erst sie eröffnen ihm Zugang zu Bildung und damit zu Lebensperspektiven.

Die Autorin ist Leiterin des LOS (Lehrinstitut für Orthographie und Sprachkompetenz) in Neumünster. In rund 200 LOS in Deutschland, Luxemburg und Österreich werden zurzeit über 20.000 Kinder und Jugendliche mit Problemen im Lesen und Schreiben gezielt gefördert.

Informationen/Hilfe:
Alfa-Telefon 0251 - 53 33 44 (Erwachsene)
www.alphabetisierung.de (Erwachsene)
www.LOSdirekt.de (Kinder u. Jugendliche)